Am 20. Juli 2015 hielt der Wuppertaler Stadtdechant Dr. Bruno Kurth anlässlich der Gedenkveranstaltung zum gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 im Deweerth’schen Garten in Wuppertal-Elberfeld die Gedenkrede vor 180 Teilnehmern. Zu der jährlichen Gedenkveranstaltung laden die Stadt Wuppertal, die jüdische Kultusgemeinde und die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Wuppertal ein. Wir dokumentieren im Folgenden den Wortlaut der bemerkenswerten Rede von Dr. Bruno Kurth:
Sehr geehrte Damen und Herrn,
sehr geehrte Frau Krause,
sehr geehrter, lieber Oberbürgermeister Peter Jung,
sehr verehrter Herr Goldberg,
lieber Rabbiner Vinitz,
sehr geehrter Herren Remmert und Zimmermann,
„Falsche Propheten mit einem Kreuz auf der Fahne, das aber nicht das Kreuz des Welterlösers ist, ziehen durch Städte und Dörfer. Sie verwüsten die Herzen des leidenden Volkes.“ (nach Zeugen für Christus I, 307)
So mahnte 1930 auf dem 69. Deutschen Katholikentag in Münster der Wuppertaler Bernard Letterhaus. Ein waches und klares politisches Bewusstsein ließ ihn früh das Unheil und die Gefahr erkennen, die von den Nationalsozialisten ausging. Seine Herkunft aus einer Arbeiter- oder Handwerkerfamilie, eine im christlichen Glauben gründende Überzeugung und sein Mut motivierten ihn früh dazu, das auch öffentlich auszusprechen, als Verbandssekretär der Westdeutschen KAB oder als Mitarbeiter der Westdeutschen Arbeiterzeitung, der WAZ. Bernard Letterhaus war einer der Köpfe in den christlichen Kreisen des Widerstandes. Wenige Tage nach dem misslungenen Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurde er verhaftet, am 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren,
wir gedenken am heutigen Tag vor dem Denkmal im Deweerth’schen Garten aller Opfer der NS-Herrschaft und des NS-Terrors, der Millionen Juden, die dem Antisemitismus und dem Rassenwahn der NS-Ideologie zum Opfer fielen und im Holocaust ermordet wurden, und besonders der Opfer in Wuppertal. Wir ehren die politisch Verfolgten, Mitglieder der verschiedenen Parteien, die die Nazis bekämpften, und die Gewerkschaftler. Wir wissen, dass andere Minderheiten wie Sinti und Roma, die Zeugen Jehovas und andere ebenso zu den Verfolgten gehörten. Sie sehen mir nach, wenn diese Erwähnung nicht vollzählig sein kann.
Heute am 20. Juli ehren wir die Widerstandskämpferinnen und -kämpfer, die sich aktiv gegen die NS–Herrschaft, gegen den Führerstaat und zuletzt gegen den Krieg wandten. Viele haben diesen Einsatz mit ihrem Leben bezahlt. Sie gehörten unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, politischen Richtungen, religiösen Gemeinschaften und Weltanschauungen an.
Sie handelten aufgrund ihrer Überzeugung und ihres Gewissens. Beides entsprang wohl bei den meisten weniger einem heroischen Charakter, sondern bildete sich in langer Auseinandersetzung und mitunter in einem einsamem Ringen. Wir reden, seien wir ehrlich, im Gesamt der deutschen Bevölkerung über Ausnahmeerscheinungen.
Die Kirchen blieben als religiöse Gemeinschaften und Institutionen um sich selbst besorgt. Sie verteidigten die Verkündigung des Evangeliums vor falscher Inanspruchnahme, und ihre Lehre. Sie schirmten das kirchliche Leben und dessen Gruppen gegen die totalitäre Gleichschaltung, aber sie verteidigten nicht das Leben und die Würde Andersdenkender oder Andersgläubiger und nur in einzelnen Fällen oder Aktionen das Leben der jüdischen Mitbürger.
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Es lässt sich immer leichter sagen, dass ein christlich gebildetes Gewissen und das Bewusstsein für Mitmenschlichkeit dazu verpflichten sollte, zu widerstehen und bedingungslos Menschen in Not zu helfen, ohne Ansehen von Religion, Herkunft und sozialer Stellung. Aber ein solch gebildetes Gewissen und den dazugehörigen Mut und, wenn nötig auch die Klugheit, zeigten tatsächlich nur zu Wenige. Eine von ihnen war Maria Husemann, die couragierte und tatkräftige Sekretärin des Caritasdirektors Hans Carls. Bei ihr im Caritashaus fanden Wuppertaler Juden und andere wirksame Hilfe. Dies auch nach dem Ende der NS-Zeit, denn Maria Husemann überlebte das KZ Ravensbrück. Mit ihrer Erfahrung war sie engagiertes Mitglied der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Sie starb 1975.
Es ist leicht, und ich gestehe einen Überdruss daran, aus der komfortablen und sicheren Position der Gegenwart das Verhalten derer zu kommentieren und es gar zu bewerten, die in dieser Zeit lebten und sich bewähren mussten. Damals konnte die Tat Nachteile bringen und das Leben kosten, heute erzielt die entsprechende Kommentierung und Proklamation leicht Beifall.
Wie sehr die Sicht auf die Vergangenheit und deren Beurteilung Änderungen unterliegt, zeigt das aktuelle Urteil des Landgerichtes Lüneburg. Lange, zulange lebten und arbeiteten an entscheidenden Stellen unserer Gesellschaft, auch in der bundesdeutschen Justiz und der der DDR, diejenigen, die Mitwisser, Mitläufer und Mitmacher waren. 70 Jahre hat es gedauert, bis die deutsche Justiz nicht nur die unmittelbaren Mörder in den KZs selbst, sondern auch die Mittäter zur Rechenschaft zog, die irgendwo in der Todesmaschinerie mitmachten. Jetzt werden die über 90-Jährigen verurteilt. Das ist gerecht, aber wenn das Recht so spät kommt, hinterlässt es kein gutes Gefühl.
Der selbstkritische Mensch muss sich fragen: Wie hättest Du dich verhalten? Wärest Du deinem Nachbarn oder einem anderen fremden Menschen in großer Not zum Nächsten geworden? Wärest Du zu einem klaren Urteil gekommen gegen eine Bewegung, die modern und dynamisch auftrat mit einer perfiden perfekten Propaganda? Und was hättest Du riskiert um deines Standpunktes und deiner Überzeugung willen
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Ein Zitat von Maria Husemann mahnt uns:
„Was ich erlebt habe, darf nie mehr vorkommen. Wir müssen alles tun, dass Unrecht und Unterdrückung nicht mehr zur Herrschaft kommen.“
Was können wir tun? Heute zu diesem Anlass in unserer Gedenkstunde möchte ich mit Ihnen über die Haltung zum Widerstand, und das, was ihn begünstigt, nachdenken. Dazu sechs Beobachtungen.
1. Gestatten Sie mir, dass ich kurz abweiche und eine Beobachtung aus einer anderen Situation und Epoche der jüngsten deutschen Geschichte anführe, nicht weil ich die Situation und die Systeme gleichsetzen will, keineswegs, sondern um ein Schlaglicht auf die Widerstandsfähigkeit des Menschen zu werfen. Was sind das für Menschen, die Widerstand leisten? Der Bezugspunkt ist der Widerstand gegen das Unrecht in der DDR insbesondere gegen das Stasi-Bespitzelungssystem. In der Bonner Kath. Hochschulgemeinde, meiner früheren Stelle, hatten wir zu einem Zeitzeugen-Vortrag den damaligen Leiter der Behörde zur Aufbewahrung und Erforschung der Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck, unseren jetzigen Bundespräsidenten zu Gast. Er sprach über seine Erfahrungen als Bürgerrechtler und engagierter Pastor, aber auch über die Erkenntnisse aus der Erforschung der umfangreichen Stasi-Unterlagen, die Einblicke bis in den Alltag der Menschen vermitteln.
Welche Menschen haben Widerstand geleistet, sich dem Mitmachen bei der Stasi verweigert, und dies unter Inkaufnahme von Benachteiligung, Bespitzelung und manchmal auch schlimmerer Gefährdung? Besonders zwei Gruppen treten hervor: Die einfachen Menschen, die einfachen Berufe und die Künstler. Unter den Menschen, die sich dem System Verweigerten und Anfragen zu Bespitzelung widerstanden waren viele Künstler und auch Geistliche. Eher schwach vertreten war die Gruppe der Akademiker und Wissenschaftler, die in der Regel politisch angepasst waren, um zu forschen und zu lehren. Künstler sind, mindestens solange ihre Kunst noch nicht erfolgreich und etabliert ist, unabhängige Existenzen, potentiell dissident.
Auch wenn mit dem 20. Juli historisch ja eher führende Kräfte in Militär, Politik und Gesellschaft in den Blick rücken, ein kleiner Teil der Elite, so waren es auch gegen die NS-Herrschaft oft die einfachen Leute, die Widerstand leisteten. Sie haben vielleicht jüdische Nachbarn versteckt. Junge Leute haben Flugblätter verteilt, die sich gegen die Nazis und den Krieg wandten.
2. Ein Verräter werde er in jedem Fall sein, entweder vor dem eigenen Gewissen oder in den Augen des deutschen Volkes – so der Widerständler Claus Graf Schenk von Stauffenberg, der mit seiner Familie einige Jahre in Wuppertal wohnte.
Was befähigte ihn, mehr dem eigenen Gewissen als dem Ansehen des deutschen Volkes zu folgen? Diese Frage erübrigt sich nicht von selbst. Es ist eben nicht so, dass die meisten Menschen leicht ihrem Gewissen folgen, wenn das unangenehme Konsequenzen hat. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es bis es soweit kommt beschwichtigt wird, sich korrumpieren läßt – oder dass der Mut fehlt. Mit dem „Ansehen des deutschen Volkes“ können wir heute weniger anfangen. Vielleicht ist an die Stelle die öffentliche oder die vielfach medial veröffentlichte und inszenierte Meinung getreten. Die Biographie Graf von Stauffenbergs lässt innere Unabhängigkeit erkennen, die auf einer breiten kulturellen Bildung, aber auch einer ausgeprägten Charakterbildung basierte.
3. Begünstigt die Tatsache, dass jemand nicht Rücksicht auf die eigene Familie nehmen muss, den Widerstand? Ich weiß nicht, ob dies systematisch erforscht wurde. Aber es gab nicht wenige Familienmenschen im Widerstand, die Kinder und Ehepartner zurückließen, und es gab genügend Ehelose, die nicht aktiv im Widerstand wurden. Sicher ist: Die Rücksichtnahme auf die Familie treibt den Gewissenskonflikt auf die Spitze. Und hier gilt erst recht: Wer maßt sich an, die daraus folgende Gewissensentscheidung zu beurteilen?
4. Leben wir in einer Gesellschaft, die die Gewissensbildung und damit zusammenhängend Mut und Widerstandsfähigkeit fördert? Es ist bestimmt kein Ausweis, dann beeindruckende Statements und Bekenntnisse von sich zu geben, wenn diese leicht den Beifall finden. Und wir leben in einer Gesellschaft, die den Beifall zum Geschäftsmodell gemacht hat, social media sei dank. Wieviele likes bekomme ich? Leicht kann sich jedermann mit dem Lüftchen seiner Hirntätigkeit, wenn es denn mal tätig war, in den nächsten und übernächsten Shitstorm hineinpusten, der sich zu allen möglichen Ereignissen erhebt. Schräg und überflüssig finde ich es, wieviel Beachtung das mitunter findet, ja mittlerweile schädlich für eine politische Kultur.
Liebe Damen und Herren, vielleicht überbewerte ich diese und ähnliche Phänomene? Mir jedenfalls scheinen der Mut und die innere Konsequenz, sich gegen die Mehrheit zu stellen, nicht so weit verbreitet zu sein. Wir brauchen nicht nur an die Politiker zu denken, die wieder gewählt werden wollen, was ja konstitutiv für eine parlamentarische Demokratie ist. Nehmen wir zum Beispiel, da kenne ich mich aus, den Klerus. Es überwiegt bei weitem der Typ des Predigers, der den Beifall und das schnelle Lob der Gemeinde sucht, übrigens eine sich wechselseitig verstärkende Beziehung. Sich gegen die Mehrheit zu stellen, auch wenn es unangenehm wird, oder ich mich unbeliebt mache und in der in allen möglichen Medien abgebildeten Gunst nach unten rutsche, das zeugt von einer Haltung, die Widerstandsfähigkeit begünstigt.
5. Eines der Gebote der Stunde, unserer Zeit ist, gegen Fremdenfeindlichkeit und dumpfe Ressentiments, gegen neidschürende oder schlicht rassistische Parolen und Hetze einzutreten. Wir werden wieder Zeugen von geistiger Brandstiftung und Brandanschlägen auf Flüchtlingsheime. Dass hier der Rechtsstaat und die Polizei handeln müssen, ist unverzichtbar und selbstverständlich. Was muss darüber hinaus geschehen? Was bewirken Worte? Und wo und gegenüber wem? Vor einem Publikum, das mir zustimmend oder pflichtschuldigst Beifall spendet eher wenig. Wenn der Appell zwischen den Zeilen nur der ist: Wir sind auf der Seite der Guten – dann bewirkt das herzlich wenig. (Zum Glück geschieht mehr: Und wir müssen alles Mögliche tun, um eine Kultur des Willkommens und der Integration für die Flüchtlinge zu verstärken, ohne dass damit alle politischen Fragen gelöst sind.)
Um ein anderes Beispiel und ein nicht weniger bedrängendes auch politisches Problem zu nennen: Wer als Muslim in einer Moschee oder einer muslimischen Gemeinde oder Gruppe, in der vielleicht einzelne, jüngere Mitglieder vielen westlichen Werten und Haltungen ablehnend gegenüberstehen, in der Antisemitismus und religiöser Fanatismus geschürt werden, in der Jugendliche den Salafismus bis hin zum gewalttätigen Dschihadismus attraktiv und verlockend finden, wer sich dort gegen den Strom stellt und für Frieden und Toleranz steht, der zeigt Widerstand.
6. Sie merken: Den Widerstand nach außen, in die Gesellschaft und das soziale Zusammenleben hinein, verbinde ich mit dem Gewissen, mit der inneren Unabhängigkeit und dem Mut, einen Standpunkt zu vertreten und aus der schweigenden oder sich laut äußernden Mehrheit herauszutreten.
Am Tag der Sportpalastrede des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels, als Tausende in Berlin tobten und schrieen, da legten Hans und Sophie Scholl in der Münchner Universität das sechste Flugblatt der Weißen Rose aus. Sie haben sich von der schweigenden Mehrheit abgesetzt.
Die Befragung des Gewissens muss eingeübt und gebildet werden. Leicht fragt und schaut man nach dem, was andere denken, aber nicht um Orientierung für das eigene Gewissen zu erhalten, sondern des Ansehens, des Images wegen. Man will kein Verlierer sein.
Der Schriftsteller Martin Ahrends schreibt in seiner Zeitungskolumne „Der Atheist, der was vermisst“: „Wer im Himmel Anker geschlagen hat, dem fällt es vermutlich leichter, auf Erden seinem Gewissen zu folgen und zu jenen Guten zu gehören, die zu Lebenszeiten die Verlierer sind.“ Wo sind die Orte und Räume in der Gesellschaft, an denen die schweigende Mehrheit regelmäßig ihr Gewissen befragen kann und soll? Sind das solche Gedenkveranstaltungen? Eher nicht, dazu sind wir zu sehr unter uns trotz aller Öffentlichkeit. Sind es die politischen Versammlungen und Kundgebungen, die politischen Foren und Institutionen? Das wäre schön. Sind es die Kirchen, ist es die Synagoge, sind es die Moscheen? Das wünsche ich mir.
Zum Ende dieser Gedenkrede noch einmal Maria Husemann
„Wir müssen alles tun, dass Unrecht und Unterdrückung nicht mehr zur Herrschaft kommen.“
Ohne kritisches wie selbstkritisches Nachdenken geht es nicht. Ich danke Ihnen, wenn Sie mir darin gefolgt sind. Was wir auch wissen: Nachdenken und Reden allein ist zu wenig.
Dr. Bruno Kurth
Stadtdechant in Wuppertal
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